KI und Automatisierung im Gesundheitswesen: Auf dem Weg zur perfekten Patientenversorgung?

Der Hype ist tot – es lebe der Hype! Künstliche Intelligenz ist zwar kein neues Phänomen mehr, sondern längst Teil unseres privaten und beruflichen Alltags geworden. Im Gesundheitswesen fangen wir aber gerade erst an zu verstehen, welche neuen Wege uns KI und Automatisierung zukünftig eröffnen könnte. Ein Überblick über Möglichkeiten, Anwendungsgebiete und Perspektiven in Diagnostik, Therapie und Forschung.
Wenn ich mit Kunden, Kollegen oder Bekannten spreche, höre ich häufig geradezu enthusiastische Erwartungen, wenn es um Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin geht. Oft soll ich Fragen beantworten wie: Sind wir auf dem Weg zur perfekten Patientenversorgung? Erleben wir eine Explosion der medizinischen Forschung? Wird die Medizin, wie wir sie kennen, von Grund auf revolutioniert? Solch utopische Erwartungen versuche ich zu dämpfen. Denn noch stehen wir ganz am Anfang des KI-Zeitalters in der Medizin.
Aber – auch das ist richtig – die Segel in Richtung KI-Zukunft sind gesetzt. Die Gesundheitsversorgung, wie wir sie kennen, steht vor riesigen Veränderungen, in der Diagnostik und der Therapie ebenso wie in der Forschung und der Prozessoptimierung. Wo wir heute in diesen Gebieten bereits stehen und wohin die Reise noch gehen kann, möchte ich in dieser kompakten Einführung skizzieren. Dass diese Themen – die jedes für sich ein eigenes Buch verdienten – hier nur sehr knapp und unvollständig dargestellt werden können, bitte ich zu berücksichtigen. Betrachten Sie meinen Beitrag daher als ein Art kompakte Einführung in die Möglichkeiten, wie KI und Automatisierung unsere Gesundheitsversorgung in der Zukunft besser machen können.
Diagnostik: Schnellere, präzisere, effizientere Befunde
Zweitmeinung per Knopfdruck
Wenn wir uns unwohl fühlen, führte unser erster Weg lange zu Google, später zu speziellen Symptom-Checkern – und heute immer häufiger zu KI-Anwendungen. Auch wenn bei der Selbstdiagnose via KI weiterhin Vorsicht geboten ist, es hat sich viel getan in den letzten Jahren. 2023 bestand ChatGPT sogar die US-Medizinerprüfung. Und auch in der professionellen Diagnostik wird zunehmend auf KI gesetzt, um ärztliche Diagnosen zu überprüfen und zu verifizieren, als qualifizierte Zweitmeinung auf Knopfdruck sozusagen. Dabei macht man sich insbesondere die Fähigkeit von KI zunutze, aus großen Datenmengen Muster zu erkennen, etwa um aus einer Summe von Symptomen ein bestimmtes Krankheitsbild abzuleiten. Einige KI-Systeme werden sogar bereits darauf trainiert, Krankheitsbilder aus der Stimme abzulesen, zum Beispiel im Kontext der Herzinsuffizienz.
KI-gestützte medizinische Bildgebung
Bereits verbreitet im Einsatz ist KI auch bei der medizinischen Bildgebung. KI-Algorithmen helfen dabei, radiologische Bilder wie Röntgenaufnahmen, MRT-Aufnahmen und CT-Scans zu analysieren und darin Anomalien oder Krankheitsmuster zu identifizieren, die für das menschliche Auge schwer zu erkennen sind. Anwendungen wie die Health-App Derm Assist von Google können auf einer Datenbasis von Millionen von Bildern immer zuverlässiger Hautkrankheiten und -veränderungen bis hin zu Melanomen erkennen. Andere KI-Anwendungen tragen dazu dabei, den gesamten Prozess der Diagnostik erheblich zu beschleunigen. In der Onkologie beispielsweise kann die Dauer einer differenziellen Diagnose zwischen mikrosatellitenstabilen und -instabilen (MSI) Tumoren durch Infrarot-Mikroskopie von etwa einem Tag auf eine halbe Stunde reduziert werden.
Gesundheitsüberwachung und Früherkennung per KI
KI-basierte Anwendungen können auch bei der Gesundheitsüberwachung im Krankenhaus unterstützten, um beispielsweise postoperative Komplikationen oder Sepsen früher zu erkennen. Sie überwachen lückenlos Vitalparameter des Patienten wie Blutdruck, Herzschlag, Puls oder Blutzucker und schlagen bei Auffälligkeiten Alarm. Kontinuierliche Fortschritte gibt es auch bei Früherkennung. 2022 veröffentliche ein Forscher-Team der Ruhr-Universität Bochum und des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg ein KI-gestütztes Verfahren, um Alzheimer bis zu 17 Jahre früher zu diagnostizieren – also noch bevor überhaupt die ersten klinischen Symptome auftreten. Und ein KI-Tool der Harvard Universität identifiziert Risikopatienten für Bauchspeicheldrüsenkrebs bis zu drei Jahre vor der tatsächlichen Diagnose.
Therapie: Unterstützung für Ärzte und Pflegepersonal
Was ist KI?
Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet die Fähigkeit von Maschinen, komplexe Aufgaben zu lösen, die normalerweise menschliche Intelligenz erfordern. Dafür imitieren sie mithilfe von Algorithmen und Daten menschliches Denken, Lernen und Verhalten, um schnell und zuverlässig Muster zu erkennen, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen.

Maschinelles Lernen (ML) bezeichnet die Fähigkeit von Computern, mithilfe großer Datenmengen zu lernen, Muster zu erkennen und zu übertragen. (Künstliche) Neuronale Netzwerke (KNN) bestehen aus verbundenen künstlichen Neuronen, die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns imitieren. Beim tiefen Lernen (Deep Learning) werden neuronale Netze eingesetzt, um Computern egenständiges Lernen beizubringen.
Genaue Behandlungsprognosen dank KI
Der Beitrag, den KI zur Behandlung von Patienten leisten kann, steht dem in der Diagnostik in nichts nach. Im Bereich eHealth werden KI-unterstützte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) bereits für eine ganzen Reihe von Therapien eingesetzt, etwa bei Schlafstörungen, Depressionen und Angstzuständen, aber auch bei Rücken-, Knie- und Hüftbeschwerden.
Eine besondere Stärke, die KI-Technologien für die Patientenbehandlung mitbringen, ist ihre Fähigkeit, aus der Analyse riesiger Mengen von Gesundheitsdaten Prognosen für Krankheits- und Behandlungsverläufe abzugeben. So können KI-Anwendungen auf Basis von hunderttausenden von Fällen die Fallkomplexität, den erwarteten Verlauf und das individuelle Komplikationsrisiko bei operativen Maßnahmen berechnen, einen Behandlungsverlauf vorschlagen und passende medizinische Informationen zur Verfügung stellen.
Vorhersagen lässt sich so unter anderem der individuelle Therapieverlauf bei der Tumorbekämpfung oder das Komplikationsrisiko nach einer Knochenmark-Transplantation.
Im New Yorker Mount Sinai Hospital erkennt eine KI anhand von Ernährungsgewohnheiten, Gewichtskurven und Laborergebnissen sogar Ernährungsmängel bei Patienten und entwickelt auf dieser Basis individuelle Ernährungspläne.
Der digitale Zwilling: Personalisierung in der Medizin
„Individuell“ gibt die Richtung vor: Ein Schlüsselbegriff im Kontext der KI-gestützten Therapie ist die „Personalisierung“ der Medizin. Ziel ist es, Behandlungen mithilfe von KI-Anwendungen genau auf die individuelle Situation und Krankengeschichte eines Patienten zuzuschneiden. An einem „digitalen Zwilling“ – einem virtuellen Abbild eines Patienten – lassen sich beispielsweise Behandlungsoptionen und Medikationswirkungen effektiv und sicher austesten. Der digitale Zwilling soll schnellere und genauere Diagnosen ermöglichen, Behandlungsfehler sowie unnötige Operationen vermeiden und bei der Auswahl der geeigneten Therapie helfen.
Auf diese Weise lassen sich auch mögliche Wechselwirkungen von Medikamenten individuell simulieren, um eine schädliche Medikamentenausgabe zu verhindern. Arzt und Patient können mithilfe von 3D-Modellen und Mixed-Reality-Brillen sogar den OP-Ablauf vor der eigentlichen Operation virtuell durchspielen. Und in Gentherapien können Gene mithilfe von rekombinanten Nukleinsäuren in den Zellen von Patienten gezielt verändert werden, um Diagnosen zu erhalten oder Therapiefortschritte zu erzielen.
KI-gestützte Präzisionstherapie und Telemedizin
KI-gestützte Technologien wie OP-Roboter ermöglichen minimalinvasive Eingriffe mit höchster Genauigkeit. Der Reiskorn-große Mini-Roboter „Bionaut“ wird beispielsweise in den Körper injiziert. Mittels Magneten wird er dann zur behandelten Körperstelle geführt, um dort die optimale Dosis Medizin zu entladen. Und beim automatischen Konturieren im Zuge der Strahlentherapie benötigt eine KI nicht einmal zwei Minuten, um beim Patienten die Regionen zu markieren, die nicht bestrahlt werden sollen. Ein Radiologe braucht dafür bis zu drei Stunden.
In Zeiten von Ärztemangel gerade in ländlichen Gebieten wird auch die Telemedizin weiter an Bedeutung gewinnen, um durch KI-gestützte Telemedizinplattformen eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. In einigen stationären Einrichtungen in Ostwestfalen-Lippe können Pflegekräfte bereits heute zur Unterstützung eine „elektronische Visite“ anfordern. In einer interdisziplinären und sektorenübergreifenden Videokonferenz können Arzt, Pflegekraft und Patient dann medizinische Fragen klären. Und auch in der medizinischen Ausbildung gewinnen KI-Technologien an Bedeutung: An der Case Western University in Cleveland können Studierende im virtuellen Anatomieunterricht bereits echte Operationen an einem virtuellen Körper nachvollziehen.
Verwaltung: Effizientere Prozesse im Krankenhaus
Auf das Wesentliche fokussieren
Angesichts des Fachkräftemangels und des demographischen Wandels entfalten KI-Technologien ihren größten Nutzen künftig womöglich abseits von Diagnostik und Therapie: in der Verwaltung, der Prozessoptimierung und der Forschung. Denn überall dort, wo medizinische und pflegerische Fachkräfte mithilfe von KI von administrativen Aufgaben entlastet werden, können diese sich wieder besser um ihre Kernaufgabe kümmern: die Patientenversorgung.
KI-gestützte Pflege-Expertensysteme (PES) etwa helfen dabei, den enormen Aufwand der Dokumentation zu reduzieren, indem der Pflegedokumentationsprozess mithilfe von Spracherkennung automatisiert wird. Zusätzlich können Handlungsempfehlungen, Risiken und präventive Maßnahmen abgeleitet werden, um etwa die individuelle Pflegebedürftigkeit eines Patienten zu erfassen. Auch die Kodierung lässt sich mithilfe von KI teilweise automatisieren, indem KI-Software auf Basis von maschinenlesbaren Dokumenten wie Arztbriefen, OP-Berichten, Befunden und Dokumentationen Abrechnungskodes erstellt.
Automatisierung von Prozessen
Die größten Entlastungen des Personals entstehen, wenn Prozessschritte oder ganze Prozesse automatisiert werden. So planen in einigen Krankenhäusern bereits KI-gestützte Systeme vollautomatisiert die Bettenbelegung oder die Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus. KI-gestützte Telefonassistenten werden zur Beantwortung von Anrufen, zur Terminplanung und teilweise zur Voranamnese eingesetzt. Und Routinedokumente wie Arztbriefe, Patienteninformationen und Entlassdokumentationen werden immer häufiger mithilfe von KI-Anwendungen erstellt.
Auch im Stationsalltag kommen KI-Anwendungen zum Einsatz. Um die Verständigung zwischen Patienten und Personal mit wenig Sprachkenntnissen zu gewährleisten, setzen Krankenhäuser wie die BDH-Klinik Greifswald heute auf tragbare, KI-unterstützte Translatoren. Diese decken mehr als einhundert Sprachen ab und können auch Informationen von Fotos in Text übertragen, um Verständigungshürden auszuräumen.
Effizienzsteigerung durch KI
KI-gestützte Systeme können in medizinischen Einrichtungen aber auch abseits der medizinischen Versorgung eingesetzt werden, um die Betriebseffizienz zu verbessern, Kosten zu senken und Mitarbeiter zu entlasten. Im Bereich des Krankenhauseinkaufs kann KI beispielsweise den Verbrauch von Waren und Verbrauchsartikeln berechnen und diese bei Bedarf automatisch nachbestellen.
Mit KI-Modellen ist auch die Hoffnung auf mehr Effizienz in der Forschung verbunden, um Kosten, Risiken und Entwicklungszeiten zu reduzieren. In der Arzneimittel-Forschung etwa gelangt bislang nur etwa eine von 5.000 untersuchten Substanzen zur Marktreife und bis zur Zulassung dauert es im Schnitt 13 Jahre. Um künftig schneller und günstiger neue Medikamente zu entwickeln, sollen KI-Anwendungen systematisch potenzielle Wirkstoffkandidaten identifizieren, unbrauchbare Verbindungen herausfiltern und die langwierigen Testphasen beschleunigen.
Wohin geht die KI-Reise im Klinikbereich?
Künstliche Intelligenz in der Medizin ist keine Zukunftsmusik, sondern bereits gang und gäbe. Sie unterstützt bei der Früherkennung, verbessert die Patientendiagnostik und trägt dazu bei, medizinische Fehler zu minimieren. Aufgrund der nützlichen Fähigkeiten von KI insbesondere in der Mustererkennung und der Auswertung großer Datenmengen ist davon auszugehen, dass wir in naher Zukunft weiter Sprünge machen werden, dass KI-Technologien immer schneller und leistungsfähiger werden. Um das Vertrauen in KI-basierte medizinische Lösungen zu festigen gilt es, die bestehenden Herausforderungen anzugehen: Sicherheit und Qualität der medizinischen Patientendaten zu gewährleisten, eine transparente und praxistaugliche Regulierung zu schaffen. Wenn uns das gelingt, kann uns KI in Zukunft tatsächlich eine Gesundheitsversorgung bescheren, die den eingangs erwähnten utopischen Vorstellungen zumindest näherkommt.
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Djordje Nikolic
Vorsitzender der Geschäftsführung
Prof. Dr. Djordje Nikolic bringt tiefes Verständnis für die Trends, Dynamiken und Entwicklungen der Klinikbranche mit. Als Gründer und Vorsitzender der Geschäftsführung von consus.health (Part of Accenture) unterstützt er Gesundheitseinrichtungen im In- und Ausland in allen Management-Fragen. Beim Krankenhauskonzern Helios hatte er zuvor Krankenhausstandorte unterschiedlicher Größen als Geschäftsführer geleitet.